Das Ziel ist definitiv schon näher als auch schon. Vorfreude, aber auch ein wenig Wehmut liegen in der warmen Herbstluft. Die letzten 190 Kilometer fahren sich aber nicht von selbst, wie der aktuelle Bericht hier erzählt.
Tag 9: “Wir haben noch Wind (und andere Dinge) in den Haaren …”
Am Vorabend hat der nationale Wetterdienst für heute und Lleida ein “Riesgo amarillo” ausgegeben. Der Wind kann lose Gegenstände, schwache Bäume und unaufmerksame Velofahrer verblasen. Zu meinem Vorteil will der Wind in die gleiche Richtung ziehen, wie ich mehrheitlich fahren möchte. Nach einem Kaffee in einem Café, bei dem ich einem letzten Regenschauer zuschauen kann, geht es los. Auf den ersten Metern stelle ich fest, dass die mit dem Wind nicht gelogen haben. Die Route geht heute in verschiedenen Flusstälern etwas aufwärts als Aufwärmübung für den nächsten Tag. Der Wind kompensiert diese Zusatzanstrengung hoffentlich.
Peddalington hat vom Geholper genug, will heute ein alternatives Transportmittel ausprobieren und mich am Abend wieder treffen. Wegen des Windes wurde sein Flug aber gecancelt und er musste mit mir mitholpern.

Unterwegs mache ich in verschiedenen Dörfern halt, die, abgesehen vom Wind, ziemlich ruhig sind. Ich vermute, dass viele auswärts arbeiten und nur ein paar wenige Arbeiter und Pensionierte im Dorf umherschlarpen (wirklich!). Das “Schlarpen” hat einen Zweck, das erkenne ich in meinem Mittagsdorf Tarrega. Da sind zwei alte Herren gut hörbar schlarpend in den Gassen unterwegs. In meiner kurzen Zeit auf dem Bänkli kann ich die beiden Schlarpstile schon gut unterscheiden und weiss, wer von den beiden jetzt gleich um die Ecke kommt. Die Abuela (Grossmutter) kann also zu Hause den Kaffee aufsetzen, sobald sie ihren Abuelo mit dem Baguette oder der Patisserie unter dem Arm anschlarpen hört. Lustig ist auch der Park neben einem Altersheim, in dem alle Bäume eingelismet sind.

Der Wind schiebt mich durch die Landschaft, durch Felder und Plantagen, einmal verpasse ich sogar eine Abzweigung. Bei der Korrektur wird mir bewusst, der Gegenwind wäre nicht eine ganze Etappe zu ertragen. Tatsächlich klaut mir der Wind auch noch eine Socke, die ich zum Trocknen auf dem Gepäck montiert habe, so eine Frechheit. Hier einige windige Eindrücke in einen Film geblasen:
Cervera ist mein Etappenziel für heute und einmal mehr eine Stadt auf dem Berg. Ich versuche mit meiner Jacke ein Segel zu bauen, das mir den Aufstieg erleichtern soll und bin froh, dass es davon (vermutlich) keine Filmaufnahmen gibt. Meine Unterkunft liegt am Hauptplatz, vis-a-vis der ehemaligen Universität. Nachdem aller Staub und allerlei pflanzlicher Beifang aus Kleidung und Haar ausgewaschen sind, höre ich vom Bett aus dem Schlarpen auf dem Platz zu. Hier einige Eindrücke von heute:











In Cervera entdecke ich auch noch einen Laden für E-Mail und Fax. An der Türe ist eine Neuigkeit angeschlagen: Neu – Kopien mit einem Farblasergerät:

Tag 10: Ups, ein Berg übersehen
Obwohl heute wieder ein Berg auf dem Programm steht, muss ich die Festung Cervera zuerst wieder talwärts verlassen, mache aber zuerst noch zwei Fotos von oben:


In der Fahrerkabine fühlt es sich heute etwas müde an. Deshalb fahre ich ganz gemütlich die sanft ansteigende Strasse hoch, mit der Einsicht, dass der Berg ja irgendwann fertig ist (wann endlich!), bzw. ich oben ankomme und dann eine Abfahrt die Anstrengung belohnt. Da hier auch eine Autobahn über den Berg führt, ist meine Strasse praktisch verkehrsfrei. Ein mitgeführtes Gipfeli führt noch vor dem Gipfel zu einem Zwischenhochgefühl.
Die katalanischen Verkehrsschilder und ihre Sprache regen beim Pedalen die Fantasie an. Habt ihr gewusst, dass ihr ein katalanisches Wort in eurem Wortschatz habt? “Blau” heisst auf Katalanisch “blau”. Einfach, falls ihr mal irgendwo damit bluffen wollt. Die Sprache wird übrigens von 12 Millionen Menschen in vier Ländern gesprochen (ratet mal in welchen, Auflösung folgt ganz unten). Dann folgt auch schon die Passhöhe. Eine Kapelle “Bon Viatge” (guten Reise), eine grosse Garage für Lastwagen und ein Hotel zeugen von anderen Reisezeiten.

Es folgen fünf Kilometer Flyrider bei 5 % Gefälle und perfektem Belag. Ich verpasse dabei eine zerfallene Zementfabrik, die als Kulturerbe gilt und die ich trotz ausgeprägt sensibilisierten Augen nicht als solches erkenne. Dafür lege ich bei einer Tankstelle einen kleinen Halt ein, geniesse etwas zu kühles aus ebenselbem Schrank und fachsimple mit dem netten Herrn, dass ich keine Säule benutzt habe, dafür gerne sein Baño würde. Danach folgt ein lockeres Vorwärtskommen bis Igualada einer richtigen Stadt, deren Park mich zu einer Pause einlädt. Ich will aber heute noch weiter, damit morgen das Finale etwas kürzer ist. Ich muss dafür das Tal wechseln, das ist mir bewusst und es gibt verschiedene Möglichkeiten, soweit habe ich grob schon eine Ahnung. Also sitze ich auf dem Bänkli und rechne mit meinem Businesstamagochi die Routen und äääh – den zweiten Berg habe ich irgendwie kleiner im Kopf. Ich vermute eine tektonische Verschiebung in den letzten 24 Stunden oder habe ich einfach unaufmerksam sehr sportorientiert geplant. Während sich Peddalington ins zerzauste Fell lacht, wäge ich zwischen zwei Varianten ab und wähle die weniger kräftezehrende, man muss es ja nicht übertreiben. Nach einigen Kilometern stelle ich verwundert fest, dass etwas nicht stimmen kann. Schnelldenker ahnen es bereits, ich fahre auf der anderen, nicht gewählten, Route. Da sich ein Umkehren nicht mehr lohnt, rede ich mir ein, dass dies sowieso die viel schönere Variante ist. Das Einreden klappt gut, die Ausblicke sind schön. Ich fahre auf der Rückseite des Montserrat-Gebirges, das ich vor zwei Jahren von der anderen Seite sah.

Die Strasse ist zwar relativ schmal und im Feierabend eine der verkehrsreichsten meiner ganzen Reise, aber ich muss vielen Spanierinnen und Spaniern ein Kränzchen winden für ihre Geduld und ihr vorsichtiges Fahren. Einige überholen erst, wenn ich ihnen ein Zeichen gebe. Das Navi hat zweimal eine Idee für ein Alternativstück, einmal in einen fast zugewachsenen Weg mit Treibsand und das andere Mal so steil, dass ich fast Haftcreme an die Pneus machen muss. Dann fahre ich halt nach Intuition statt Navi, das hat ja immer oft gut funktioniert 😎.
Etwas gerädert erreiche ich meine Unterkunft in Esparreguera und freue mich, dass es ein wunderschönes Zimmer und eine sehr freundliche Unterkunft ist. Ganz der Katalone an der Rezeption, verlangt er von mir 1.40 € Revolutionsgebühr (an andern Orten Kurtaxe genannt). Hier noch Eindrücke des Tages:




Spannend finde ich diese Entsorgungsstellen in der Stadt. Es können Räder ausgefahren und das ganze Teil kann als Anhänger abtransportiert werden.

Tag 11: Barcelona wir kommen im Flow
Die letzte Etappe ist erstens eine kurze und zweitens bin ich den letzten Teil schon einmal in der Gegenrichtung gefahren. Obwohl ich dem Fluss Llobregat Richtung Mittelmeer runter folge, gibt es zuerst strassentechnisch eine Auseinandersetzung mit den Talseiten und deren Höhen und Tiefen. Trotz der gestrigen Erfahrung hinterfrage ich die geroutete Strecke nicht vollständig. Als bei meiner Talfahrt zuerst der Asphalt verschwindet und dann auch Wasser dazukommt, werde ich unsicher. No Risk, no Pain, ignoriere ich Unsicherheiten und fahre durch eine Schlucht auf sehr weichem Untergrund. So sieht das aus:




Beim groben Kies kann ich dann mein Velo eine Böschung hochhieven und finde wieder eine Strasse, die den Namen verdient. In Martorell führt eine Teufelsbrücke über den Llobregat. Eine von über hundert solchen Brücken in der Welt. Die Sage ist auch ziemlich ähnlich wie das Schweizer Pendant. Hier wurde aber eine schwarze Katze geopfert und nicht eine Ziege wie in der Schöllenenschlucht.

Danach geht es ratzfatz. Das Ziel beflügelt das Ross. Dem Llobregat entlang gibt es gut ausgebaute Radwege (sogar mit betonierter Spur, für freihändig Velofahrende 😉), eine Katzenkolonie (Füttern nur erlaubt von registrierten Freiwilligen), viel Schilf und natürlich dem Fluss Llobregat.





Die Einfahrt in Barcelona funktioniert, dank guter Radwege, ausgezeichnet. Ich fahre dabei mitten durch längste Einkaufszentrum von Europa, wie die Strasse Carrer de Sants auch genannt wird. Sie ist vier bis fünf Kilometer lang, hat über 300 Geschäfte, Restaurant und Cafés und das Beste ist, sie ist am Wochenende für den motorisierten Verkehr gesperrt. Die Strasse hat eine eigene Website (mit Geschichte und Video auf Katalanisch).

So erreiche ich mein Ziel und meine Bleibe für die nächsten zwei Wochen glücklich und zufrieden. Barcelona heisst mich mit bestem Wetter und schönen Orten herzlich willkommen. Ein kleiner Einblick gefällig?










Vielen Dank fürs Mitreisen!
Kartenausschnitt
Hier die einzelnen Tagesetappen in einer Gesamtübersicht zum Zoomen:
Videos der Routen
Wer gerne einzelne Tage als Überflug anschauen möchte, hier die Etappen zu diesem Beitrag:
Etappe 9, 23. Oktober
Etappe 10, 24. Oktober
Etappe 11, 25. Oktober
Auflösung Länder mit Katalanisch: Spanien (Katalonien, Murcia, Valencia [eigene Art], Teile der Balearen, Teile von Aragonien), Frankreich (in Nordkatalonien), Andorra und Italien (auf Sardinien in der Stadt Alghero).


