Der zweite Teil auf dem Weg zur Ostsee führt von Zielona-Gora weiter der Oder entlang, die jetzt meist auch die Grenze zwischen Deutschland und Polen ist. Das ermöglicht uns, beidseitig das Beste zu nutzen und zu geniessen. Wir pedalen nordwärts zur Ostsee, wo das Festland mit einem Streifen Sand ins Meer ausfranselt.
Mit einem kleinen Zug nehmen wir eine Abkürzung von Zielona-Gora bis Gubin, um etwas Pampa mit schlechten Wegen und grossen Strassen zu umfahren. Der Konduktorowski macht mit einer kleinen Ansage im kleinen Zug die Veloplätze frei. Inhaltlich verstehen wir nichts, aber es ist offenbar klar und laut genug, sodass vom kleinen Kind mit dem Lollipop im Mund bis zur Oma mit dem Einkaufswagen innert weniger Sekunden alle auf den Bäumen anderen Sitzen sind.
Vom polnischen Gubin wechseln wir auf unseren Rädern auf die deutsche Seite nach Guben und stellen fest, dass beide Länder wieder Zollkontrollen machen. Die Polen haben auch bei allen Grenz-Velowegen Militär in Tarnzelten postiert. Mit unserem eingeübten „Dzien dobry“ erhalten wir aber immer freie Fahrt.

Der Oder entlang
Wir fahren nun wahlweise auf der deutschen Seite, wenn wir bessere Wege wollen, geschichtlich interessante Orte unsere Aufmerksamkeit erheischen oder eine Übernachtungsstätte mit einem Etappenziel zusammenfällt. Oder wird fahren über die Oder nach Polen, wenn wir einfache Dörfer, etwas holperigere Wege und mehr Natur wünschen, günstigere Einkaufsmöglichkeiten und nette polnische Leute sehen wollen oder eine Übernachtungsstätte mit einem Etappenziel zusammenfällt. Insgesamt ist es beidseitig nicht so dicht besiedelt, wie wir das gedacht hätten, aber wir planen Einkaufen und Übernachtung gut ein. Oderübergänge gibt es auch nicht so viele. Eine Fähre zum Beispiel, die wir nehmen möchten, fährt wegen Niedrigwasser nicht.



Dafür kommen wir auf den Hochwasserdeichen der deutschen Seite gut und schnell vorwärts. Sie sind nämlich nach DIN 19712 (ja, schaut nur, damit ihr wieder was lernt Link) geformt und perfekt asphaltiert.
Unterwegs treffen wir auf die Planstadt Eisenhüttenstadt aus der DDR-Zeit (Wikipedia weiss mehr), auch Schrottgorod genannt, mit Stadtvierteln aus mehreren Etappen. Die Häuser sind schöner als gedacht, aber es fehlen Leute, die hier wohnen wollen. Die Stadt hat ein Programm mit möblierten Wohnungen, damit man hier probewohnen kann. An anderen Orten sieht man die DDR-Zeit noch deutlich:




Ein paar Bilder von unseren flussläufigen Kilometern:












Auch ein Glacé darf natürlich ab und zu nicht fehlen. Und für alle, die mit mir, Peddalington, schon Mitleid hatten, ich bin sortentechnisch etwas heikel. Als Bär nehme ich ausschliesslich Honigglace und das gibt es sehr selten.


Szczecin und das Haff
In Stettin bzw. polnisch Szczecin (kein Schreibfehler) fliesst die Oder über (in das Stettiner Haff) und auch die Freude unserer beiden Velöler (ab der unerwartet schönen Stadt). Die haben sich einfach nicht gut vorbereitet, die Stadt ist nämlich nicht neu.










Unser Hotel hat die beste Velogarage, die wir je gesehen haben. Sie ist nicht nur für das Hotel und hat neben den Stellplätzen auch Duschen und Garderobenschränke.

Das Stettiner Haff (an der Ostsee werden Lagunen “Haff” genannt) umfahren wir auf der polnischen Seite durch viele Naturschutzgebiete (hier werden zum Beispiel Mücken nicht gejagt! Da lobe ich mir mein Bärenfell).







Unerwartet entscheiden sich die beiden Todesmutigen in diesem Gebiet für einmal im Zelt zu schlafen, das bereits 700 km ungenutzt mitfährt. Lustigerweise sind auch alle Teile mit dabei, ohne dass sie das zu Hause überprüft hatten. Auf dem Campingwieschen ist bereits ein junger polnischer Velofahrer, der auf dem Weg zum Nordkapp ist und gut Englisch spricht. Er ist sehr interessiert, wie uns Polen gefällt, kann uns viele Fragen zu seinem Land beantworten und hilft, unsere Erfahrungen einzuordnen. Etwas später trifft eine holländische Familie mit zwei Jungs (8 und 10 Jahre alt) ein, die wir bereits unterwegs bewunderten und heute 50 km mit dem Fiets (Velo) gefahren sind. Mit ihnen ergibt sich ebenfalls ein reger Austausch, teilweise sogar auf schwizerdütsch, weil sie vier Jahre in Zürich gelebt haben. Die Jungs haben noch sehr viel Energie, um einander zu ärgern und den Eltern Streiche zu spielen (z. B. um den Papa im WC einzuschliessen). Noch etwas später treffen zwei tschechische Velofahrer ein, beide um die 70 Jahre alt, die von der Grenze der baltischen Staaten in der Gegenrichtung unterwegs sind. Mit ihnen ist die Verständigung am schwierigsten lustigsten. Auch nach einem Becherli Slivovice (ihre Morgen- und Abenddesinfektion), verstehen wir sie schlecht missverstehen wir sie gut, können neu Feuer speien.

Meine beiden Veloreisenden schlafen diese Nacht so tief wie noch nie in diesen Ferien. Also vom Boden her gemessen, sonst nicht so. Und gegen Morgen erhöht sich die Luftfeuchtigkeit massiv und konzentriert sich auf Punkte in der Luft. Es gilt die alte Campingregel:
Je mehr Regen man hört auf das Zelt nieseln, desto dringender muss man pieseln.
So bleibt der ganze Campingplatz ziemlich lange ruhig und alle in ihren Zelten, bevor alle Velöler in ihre Richtungen davon fahren.
Ostsee, Strand und Ziel
In Międzyzdroje verlassen wir das Haff und treffen auf der Nordseite die pommersche Bucht der Ostsee. An der Promenade trifft uns zudem fast der Schlag und wir treffen auf sehr viele Touristen und Rummel. Schnell machen wir einen Abflug und fahren an der Ostsee entlang westwärts durch einsame Wälder mit mühsamen Schüttelpfaden, bis wir mitten im Nirgendwo den Start eines exklusiven Radwegs antreffen:

In Świnoujście, zu Deutsch Swinemünde, überqueren wir den Meeresarm Swine mit der Fähre und schlagen unser Nachtlager am Meer auf. Wir sind froh, dass es hier ruhiger ist und weniger Leute hat. Beim Flanieren am Abend werden wir am Sandstrand freundlich mit winken begrüsst. Bald schon winken wir aber auch, und versuchen die fliegenden Ameisen von unserem Kopf fernzuhalten.




Eigentlich sind wir nun am Ziel, haben aber Morgen noch etwas Zeit. So findet die Idee Anklang: Wir fahren noch bis Anklam!
Unterwegs treffen wir auf ein poetisches Gedicht auf Verkehrstafel:
Warte, ein Rankwitz:
Lieber Winkel,
ruhe Forst!

Mit einer fahrenden Solarfähre können wir den Peenestrom von Karnin nach Kamp überqueren. Bis dahin fahren wir mit voller Kraft die letzten 6 km im Gegenwindkanal, damit wir der Fähre nicht nur winken können. Dank meines liebevollen Anfeuerns der beiden und dem nicht so pressanten Kapitän, hat das auch geklappt. Die Fähre schifft noch an einer Hubbrücke (Wikipedia weiss mehr) vorbei, die im 1945 zerstört worden ist. Die beiden Enden wurden gesprengt, die Mitte nach oben gezogen, um den Rückzug abzusichern.



Dann kommen wir definitiv an, an unserem Ziel: Anklam (übrigens ein staatlich anerkannter Tourismusort mit reduzierter Geschwindigkeit und Vorsicht vor uns):


Begegnungen
Einige Begegnungen habe ich oben schon erwähnt, hier noch einzelne Ergänzungen:
- In Eisenhüttenstadt hat uns ein ca. 75-jähriger Mann auf dem Velo angehalten. Hinten eine Plakette mit allen Ländern, die sein Velo mit ihm schon bereist hat. Er war vor rund 20 Jahren nach China gefahren. Seine Schwerhörigkeit und der Standort neben der Hauptstrasse kürzten den Schwatz etwas ab. Er gab uns aber noch einen guten Tipp für die Route aus der Stadt heraus. Aber es ist so: Velo fahren verbindet!
- In Frankfurt an der Oder sprach uns ein Sportpsychologe an. Er ist im Ort aufgewachsen, hat die Wende erlebt, war an verschiedenen Olympiaden im Einsatz, in Paris war sein letzter offizieller Einsatz. Ihn interessierte, wie wir die Stadt und Gegend erleben. Mit ihm hatten wir ein sehr gutes Gespräch über die Stadt (warum hat es keine Altstadt?), aber auch die politische Lage (rechte Slogans und Kleber, die wir sahen, haben ungute Gefühle ausgelöst) und die Herausforderungen der wirtschaftlich eher schwachen Gegend. Das Gespräch war anregend und hat uns gutgetan. Er erwähnte das Zitat: “Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben” (es wird fälschlicherweise Alexander Humboldt zugewiesen, Link) und meinte, mit dem Fahrrad (deutsch für Velo 😉) zu verreisen helfe da gut dagegen. Andere Perspektiven würden leider vielen Leuten fehlen.
- In einem PopUp-Kafi in einer Fabrik an der Oder bekamen wir wunderbaren Kaffee, obwohl das Kafi noch geschlossen war. Als Merita einem näherkommenden Hund in Schweizerdeutsch Umkehrkommandos gab, outete sich der andere Gast als Schweizer, der in diesem Dorf lebt. Auch er erzählte aus dem Leben da und was ihn bewegt. Es war eine witzige und spannende Begegnung, bevor uns die Kurzwetterprognose zum Aufbruch pfiff.
- Auf unserer letzten Etappe entlang der Ostseeküste fuhren wir wieder nach Deutschland durch die Orte Ahlbeck und Heringsdorf auf Usedom. Wir waren gerade mal 1000 m in Deutschland eingedrungen, als uns ein rüstiger Rentner, mit Airbag unter dem Shirt, vom Radweg runter schimpfte. Es gibt da einen Fussgängerweg, einen Fahrradweg und eine kleine Strasse. Wir haben uns für die Freundlichkeit bedankt und für ein Stück die Strasse genommen. Weiter vorne sahen wir dann an jeder Laterne des Veloweges ein laminiertes Veloverbotsschild mit Klebeband montiert 🤷🏻♂️. Er tat uns leid.
Fundstücke
Hier noch einige Fundstücke, gefunden am Wegesrand:







Auf der polnischen Seite gab es an mehreren Orten sogenannte “Polenmärkte” (wir fanden das Wort etwas naja, aber es stand so da). Das sind teilweise riesige Märkte mit günstigen Artikeln für das deutsche Zielpublikum. Aus mehreren Quellen haben wir gehört, dass nur noch Tabakwaren, Benzin und Feuerwerk funktioniere:



Abschluss
Von Anklam nach Berlin fahren wir mit der Deutschen Bahn. Es st etws ng m Zg, wl vl Lte drn snd, um es mal bildlich passend auszudrücken. In Berlin geniessen wir noch etwas das Stadtleben, bevor wir ebenfalls mit dem Zug in luftigeren Verhältnissen heim reisen.





Das wars. Vielen Dank fürs Lesen! Und Tschüss

Kartenausschnitt
Hier die einzelnen Tagesetappen in einer Gesamtübersicht zum Zoomen:
Videos der Routen
Wer gerne einzelne Tage als Überflug anschauen möchte, hier die Etappen zu diesem Beitrag: